Der vierte Bildungsbericht Schweiz zeichnet die Entwicklung der Bildungslandschaft in umfassender Weise auf. Er dient dem Bildungsmonitoring, das Bund und Kantone seit über einem Jahrzehnt gemeinsam betreiben, um für eine hohe Qualität und Durchlässigkeit des Bildungsraums Schweiz sorgen zu können.
Der Sekundarstufe II sind über 80 Seiten gewidmet (S. 111–194). Im Folgenden werden ausgewählte Elemente zu den allgemeinbildenden Bildungsinstitutionen (Gymnasien und FMS) zusammenfassend erläutert, insbesondere zum Stand der bildungspolitischen Zielerreichung, zur Wirkung zentraler Rahmenbedingungen des Bildungssystems und zu interessanten Erkenntnissen aus der Statistik und der Forschung. Wenn möglich verweisen wir auf eigene Erkenntnisse aus Aktivitäten des ZEM CES.
Bund und Kantone haben zu acht Bildungsbereichen Ziele formuliert und passen diese seit Beginn des Monitorings laufend an. Die Ziele 2 und 3 betreffen die allgemeinbildende Sekundarstufe II direkt, die Ziele 7 und 8 sind stufenübergreifend von grosser Bedeutung:
Ziel 2: 95 % der 25-Jährigen in der Schweiz verfügen über einen Abschluss auf der Sekundarstufe II.
Ziel 3: Der Prüfungsfreier Übertritt zu Universitäten ist sichergestellt.
Ziel 7: Die Herausforderungen der Digitalisierung sind aufgegriffen.
Ziel 8: Austausch und Mobilität sind verankert und werden auf allen Bildungsstufen gefördert.
Die Quote der 25-Jährigen in der Schweiz, die über einen Abschluss auf der Sekundarstufe II verfügen betrug 2020 91.4 %. Diese Quote variiert aber zwischen den Kantonen stark, zwischen 84 % und 98.6 %. Wichtiger Risikofaktor für einen fehlenden Abschluss bildet ein Defizit bei den schulischen Kompetenzen.
Dem Bildungsbericht ist zu entnehmen, dass es sowohl in Bezug auf die Übertrittsquote ins Gymnasium als auch bezüglich der Abschlussquoten grosse kantonale und innerkantonale Unterschiede gibt.
Die kantonalen gymnasialen Maturitätsquoten unterscheiden sich zwischen 12,8 % (Kanton Uri) und 48,6 % (Kanton Genf). Sowohl die Wahrscheinlichkeit in ein Gymnasium einzutreten, als auch die Wahrscheinlichkeit die Maturität zu erlangen, variiert zwischen den Kantonen, aber auch innerhalb der Kantone nach Bezirken. «Als Erklärungsfaktoren für höhere Maturitätsquoten in den Bezirken schält sich neben der kantonalen Maturitätsquote der Anteil Erwachsener mit einem tertiären Bildungsabschluss heraus.» (S. 159) Tertiär gebildete Eltern bevorzugen für ihre Kinder den gymnasialen Bildungsweg, deren Kinder erbringen im Durchschnitt auch bessere Schulleistungen.
Seit den 1980er-Jahren steigt der Frauenanteil an Gymnasien an und erreichte im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts einen Anteil von 57 %. Dieser Anteil hat sich stabilisiert. Der Bildungsbericht hält ausdrücklich fest, dass Frauen eine grössere Präferenz für die Allgemeinbildung haben als Männer (Siehe Grafik 172).
Die Selektionswirkung gymnasialer Ausbildung wird im Bericht umfassend behandelt. Dabei wird festgehalten, dass eine nachweisliche Korrelation zwischen Eintritts- und Erfolgsquoten auf gymnasialer Stufe besteht: je tiefer das Niveau beim Eintritt (gemessen in Pisa-Punkten) ist, desto tiefer ist die Abschlussquote.
Bund und Kantone wollen auch langfristig sicherstellen, dass die gymnasiale Maturität prüfungsfreien Zugang zu den Hochschulen gewährt. Nebst der Maturitätsreform setzte sich die EDK zum Ziel, gemeinsame Vorgaben zur Leistungsbeurteilung an Gymnasien zu fördern und eine bessere Vergleichbarkeit des Anforderungsniveaus zu gewährleisten.
Quelle : Bildungsbericht Schweiz 2023, S. 159
Der ZEM CES-Bericht zum Stand und zur Wirksamkeit des Gemeinsamen Prüfens von 2022 zeigt, dass in 20 Kantonen in einzelnen Fächern harmonisierte Maturitätsprüfungen eingeführt worden sind. In 14 Kantonen ist das Gemeinsame Prüfen grundsätzlich, also nicht spezifisch für harmonisierte Maturitätsprüfungen einzelner Fächer, schriftlich verankert. Somit ist das Gemeinsame Prüfen mindestens seit den Empfehlungen der EDK zur langfristigen Sicherung des prüfungsfreien Hochschulzugangs mit der gymnasialen Matura auf kantonaler und schulischer Ebene insgesamt gut etabliert.
Die Vision, dass Austausch und Mobilität selbstverständliche Teile von Bildungsbiografien werden, haben Bund und Kantone seit 2017 in der Strategie «Austausch und Mobilität» festgehalten. Im Bildungsbericht steht dazu, dass 8 % der Schülerinnen und Schüler in Gymnasien und FMS einen Austausch machen, welcher aktuell in 4 von 10 Fällen innerhalb der Schweiz stattfindet. ZEM CES arbeitet gemeinsam mit Movetia weiterhin am Ziel, an den Schweizer Mittelschulen die Mobilitätskultur zu fördern.
Einen Beitrag zur Verwirklichung der bildungspolitischen Ziele leistet seit 2004 das IFES IPES bzw. ZEM CES in Form direkter Dienstleistungen an Kantone und Bildungsinstitutionen. 300 Evaluationen an rund 160 Schulen der Sekundarstufe II wurden in dieser Zeit durchgeführt. Diese Evaluationen leisten einerseits einen Beitrag zur Schulentwicklung und sind andererseits auch Bestandteil kantonaler Monitoring-Systeme.
Angebot bestimmt Nachfrage I: Gymnasiastinnen und Gymnasiasten aus Kantonen mit einer tiefen Maturitätsquote treten weniger häufig in eine universitäre Hochschule über als jene aus Kantonen mit einer mittleren Maturitätsquote. Vermuteter Grund: Die nächstgelegene Hochschule beeinflusst die Wahl des Hochschultyps (S.161). Nur 3 von 12 Kantonen mit tiefen Maturitätsquoten haben Universitätsstandorte, 8 davon haben jedoch eine Pädagogische Hochschule im Kantonsgebiet.
Angebot bestimmt Nachfrage II: Die Wahl der einzelnen Schwerpunktfächer zwischen den Kantonen schwanken stark, sehr wahrscheinlich, weil die Nachfrage nach den Schwerpunktfächern über das Angebot gesteuert wird, bzw. weil Gymnasiastinnen und Gymnasiasten in ihrer Wahl des Schwerpunktfachs je nach Gymnasium eingeschränkt sind. Wenn man bedenkt, dass die Wahl des Schwerpunktfachs die spätere Studienwahl beeinflusst, ist dies relevant. (S. 164)
Quelle: Bildungsbericht Schweiz 2023, S. 164.
Angebot bestimmt die Nachfrage III: Zudem beeinflusst das Angebot an Schwerpunktfächern Männer und Frauen unterschiedlich. «Beim Schwerpunktfach Biologie und Chemie zeigt sich kein ausgeprägter Geschlechtereffekt, hingegen beim Schwerpunktfach Physik und Anwendungen der Mathematik. Je häufiger dieses Schwerpunktfach in einem Kanton angeboten wird, desto eher wird es von Männern gewählt, was zu einem grösseren Geschlechterunterschied führt» (S. 178). Es dürfte daher einen Zielkonflikt zwischen der Bekämpfung der Geschlechtersegregation und der Förderung der MINT-Disziplinen geben.
Korrelation zwischen Maturitätsnoten und Studienerfolg
Die am Gymnasium erbrachten Leistungen beeinflussen den späteren Studienerfolg in mehrfacher Weise (S. 172). Je höher die Maturitätsnoten, desto eher erfolgt ein Übertritt an eine Hochschule und desto eher erfolgt dieser Übertritt im Jahr des Maturaabschlusses (Zeitpunkt des Übertritts), desto eher erfolgt die Wahl innerhalb der Hochschulen auf eine Universität (Hochschultyp) und desto eher wird innerhalb von sechs Jahren ein Bachelorabschluss erlangt (Studienerfolg).
Gute Noten am Gymnasium führen zu Erfolg im Studium, sei dies, weil Maturandinnen und Maturanden mit guten Noten besser auf ein Studium vorbereitet sind, oder auch nur, weil die Noten die eigenen Erwartungshaltungen positiv beeinflussen. (S. 171 f.)
Rund 6 % der Schülerinnen und Schüler auf der Sekundarstufe II besuchen eine FMS. Im Jahr 2010 lag dieser Anteil noch bei 4 % und ist seither kontinuierlich gewachsen. Die Bedeutung der FMS ist jedoch je nach Kanton sehr unterschiedlich. Die FMS-Quoten der Kantone variieren zwischen 2 % (Zürich) und 16 % (Genf).
Die Gründe dafür liegen sowohl im Angebot als auch in der Nachfrage; welches die Treiber für die kantonalen Differenzen sind, bleibt unklar. Zwei Elemente spielen dabei eine wichtige Rolle:
Schülerinnen und Schüler und deren Eltern haben unterschiedliche Präferenzen für eine allgemeinbildende Ausbildung
unterschiedliche Bildungsangebote sind häufig traditionell gewachsen oder politisch begründet.
22 Kantone führen Fachmittelschulen, die mehrheitlich den Gymnasien angeschlossen sind.
In Kantonen mit hohen gymnasialen Maturitätsquoten sind in der Regel auch die Fachmaturitätsquoten hoch und umgekehrt. In keinem Kanton haben die FMS eine kompensatorische Funktion für eine tiefe gymnasiale Maturitätsquote.
Zwischen 2010 und 2015 wurde das Angebot in den Kantonen, insbesondere im Bereich der Fachmaturitäten weiter ausgebaut. In der französischsprachigen Schweiz ist der Anteil nach wie vor deutlich höher als in der übrigen Schweiz. Ein Grund dafür ist die dort festgestellte Präferenz für vollschulische Ausbildungen auf der Sekundarstufe II (auch Gymnasien und Schulen, die eine vollschulische berufliche Grundbildung (BGB) anbieten).
Frauen an FMS:
2020 besuchten 9 % aller Frauen der Sekundarstufe II eine FMS aber nur 3 % der Männer (S. 183)
der Frauenanteil lag bei 70 % (5 Prozentpunkte tiefer als 5 Jahre zuvor)
Bildungshintergrund:
Über 50 % der Fachmittelschülerinnen und -schüler haben Eltern ohne Tertiärausbildung (S. 184). Zum Vergleich: Bei Gymnasiastinnen und Gymnasiasten ist das nur bei 25 % der Fall.
Der Bildungshintergrund der Fachmittelschülerinnen und -schüler unterschiedet sich hingegen kaum von jenem der Lernenden in der Berufsbildung. Daher hat die FMS den Ruf einer Allgemeinbildungsoption für Jugendliche aus bildungsferneren Familien.
Bildungsangebot:
Die Ausbildungen werden in sechs verschiedenen Berufsfeldern und teilweise auch kombiniert angeboten (S. 185).
Gesundheit/Naturwissenschaften: alle 22 Kantone
Pädagogik: 21 Kantone ohne TI
Soziale Arbeit, Soziales: 21 Kantone ohne GL
Kommunikation und Information: AG, BS, GE, GL, SH, TG, VD, ZH
Gestalten und Kunst: AG, BL, BS, GE, JU, SG, VD
Musik und Theater: BS, GE, JU, LU, SG, TI, VD, ZH
Sport: JU
Die FMS haben sich auf die Ausbildung in den Bereichen Gesundheit, Pädagogik und Soziales konzentriert: In 18 der 22 Kantone absolvieren über 80 % der Schülerinnen und Schüler die FMS in diesen Berufsfeldern und die meisten Abschlüsse werden in Gesundheit und Pädagogik vergeben, die Zugang zu Ausbildungen im nichtuniversitären Tertiärbereich bieten. Für die Pädagogischen Hochschulen sind sie ein zentraler Zubringer von Studierenden.
Quelle: Bildungsbericht Schweiz, S. 189.
Die Bildungsverläufe von Jugendlichen an FMS unterscheiden sich deutlich von den anderen Ausbildungstypen der Sekundarstufe II.
13 % der Eintritte in das erste Jahr erfolgt nach einem zusätzlichen Bildungsjahr nach Abschluss der Sek I.
Viele Schülerinnen und Schüler aus anderen Ausbildungstypen (bspw. nach einem Austritt aus dem Gymnasium) beginnen nicht mit dem ersten Jahr der Ausbildung, sondern steigen direkt in das zweite oder gar letzte Jahr der FMS ein.
Die Bildungswege der meisten Fachmittelschülerinnen und -schüler verlaufen nicht gradlinig. Sie repetieren häufig ein Bildungsjahr, wobei die sehr grossen sprachregionalen Unterschiede diesbezüglich auffällig sind
Übertritte
Nach Erhalt des Fachmittelschulausweises absolvieren 80 % die Fachmaturität. Rund 8 % treten in ein Gymnasium ein. 95 % setzen bis ein Jahr nach dem Fachmittelschulausweis ihre Ausbildung im Bildungssystem fort. Rund 83 % setzen ihre Ausbildung nach der Fachmaturität im Tertiärbereich fort. In den Jahren 2019 und 2020 schloss nach der Fachmaturität ein Anteil von 7 % den Passerellenlehrgang erfolgreich ab, eine Möglichkeit, die erst seit 2017 besteht. Bei den Personen mit Berufsmaturität ist der Anteil gleich hoch. Die aktuellen Daten zeigen auch in beiden Gruppen eine ähnliche Übertrittsquote an die Universitäten (Grafik 209).
Quelle: Bildungsbericht Schweiz, S. 191.
FMS Berufsfeld Pädagogik und Gymnasium mit Schwerpunktfach PPP
Über 95 % der Fachmittelschülerinnen und -schüler treten nach der Fachmaturität in den Tertiärbereich über, eine grosse Mehrheit von ihnen an eine PH. Die FMS haben in der Deutschschweiz und in der Romandie als Zubringer für die PH eine grosse Bedeutung (Hafner, 2022).
Der Anteil der Personen, die nach der gymnasialen Maturität an eine pädagogische Hochschule übertreten, liegt in der Deutschschweiz bei 20 % und in der französischsprachigen Schweiz bei 5 %. Dieser Unterschied hängt unter anderem damit zusammen, dass im Kanton Genf die Lehrpersonen aller Stufen an der Universität ausgebildet werden.
Die meisten Übertritte von einem Gymnasium an eine PH erfolgen bei Personen mit den Schwerpunktfächern Musik und Gestalten beziehungsweise moderne Sprachen
Quelle: Bildungsbericht Schweiz, S. 193.
Mehr Details und Informationen zu weiteren Gesichtspunkten finden Sie im Bildungsbericht, der auch eine gute Möglichkeit ist, sich als Akteurin oder Akteur einer bestimmten Schulstufe über die anderen Schulstufen zu informieren.
Kommunikation:
Marcel Santschi
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031 552 30 82
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ZEM CES | Schweizerisches Zentrum für die Mittelschule und für Schulevaluation auf der Sekundarstufe II